Schmerzkörper

 

Ich sitze da auf der Bank auf dem Balkon und stelle mir vis-à-vis meinen Schmerzkörper vor. Wie er an der Balkonbrüstung lehnt. Ich schaue ihn an und er schaut zurück und sagt ganz nüchtern: „Ich leide.“ 

 

Ein ums andere Mal wiederholt er die Worte: „Ich leide, ich leide, ich leide.“ immer und immer wieder. Und ich schaue ihn an und erwidere: „Ich weiss.“ 

 

Ich will ihm helfen und frage ihn: „Was kann ich für dich tun? Was brauchst du?“ Und er antwortet: „Ich weiss es nicht.“

 

Ich versuche mich an seine Stelle zu versetzen und lehne mich gedanklich an die Brüstung. Wie geht es mir hier? Was fühle ich? Was nehme ich wahr? 

 

Ich bin kalt und starr. Meine Füsse sind ganz schwer. Ich kann mich nicht bewegen. Mich fröstelt. Ich fühle mich alleine.

 

Ich beende mein Gedankenexperiment und kehre  zurück an meinen Platz auf der Bank. Ich fühle mich erleichtert, einfach so den Platz wechseln zu können. Nicht mehr mein Schmerzkörper sein zu müssen. 

 

Das bedrückt mich und lässt mich schlecht fühlen. Als würde ich ihn im Stich lassen. Was kann ich machen? Ich möchte ihn an meine rechte Seite holen, ihn mit meinem Arm an meine Seite drücken und halten. Ihm zeigen, dass er nicht alleine ist, gehalten und geschützt wird. 

 

Daher bitte ich ihn: „Komm doch an meine Seite, komm zu mir.“ Er macht keinen Wank. Ich locke ihn: „Ich bin für dich da. Ich beschütze dich.“ Doch der Schmerzkörper bewegt sich nicht. Bleibt starr und stumm stehen. Ich strecke meine Hand nach ihm aus, will dass wir einander zumindest an den Händen halten. In Kontakt sind. Doch so ist es sehr anstrengend, ich habe das Gefühl, dass es mich fast auseinanderreisst und merke, dass ich meine Hand nicht für lange so geben kann. 

Ich verzweifle, will ihm doch helfen, denke, meine Idee wäre gut, doch ohne sein Mitwirken komm ich nicht weiter. Was mach ich nun? 

 

Kurz spiele ich mit dem Gedanken mich zurückzuziehen, will die Augen öffnen und aus dem Gedankenexperiment aussteigen. Doch ich kann nicht. Das Gefühl ihn erneut im Stich zu lassen ist zu stark. Ich bleibe. Und überlege wie ich ihm helfen kann. 

 

Die zündende Idee. Wenn er nicht zu mir kommen kann, gehe ich zu ihm. Also stelle ich mich gedanklich an die Brüstung und nehme ihn in den Arm und will ihn in Bewegung Richtung Bank versetzen. Doch er lässt sich weder ziehen noch schieben. Ich bin verzweifelt. Was denn noch? Was kann ich tun? Resigniert setze ich mich wieder zurück auf die Bank und lasse meinen Schmerzkörper alleine an der Balkonbrüstung stehen. 

 

Und dann plötzlich, stelle ich mir einfach vor, wie es wäre, wenn er hier bei mir ist, neben mir sitzen und ich ihn im Arm halten würde. Ich würde ihn wärmen und ihn meine Liebe spüren lassen, würde ihm sagen, dass ich ihn beschütze und ihn fest halten, so dass er spürt, dass ich da bin. Dass ich mit Wärme und Liebe an seiner Seite bin. Und da geschieht das unglaubliche, ich spüre das eine Veränderung ihn ihm vor sich geht. Ich schaue ihn an, wie er an der Brüstung lehnt und sehe, wie meine Vorstellung bei ihm ankommt, ihn regelrecht umhüllt und wärmt. Und plötzlich beginnt sein Äusseres zu schmelzen, fliessen Farben, grau und dunkel, an ihm herab. Wie Wachs das schmilzt, lösen sich immer mehr Schichten von ihm ab. Und ich realisiere, dass seine Hüllen fallen, Hüllen die ich ihm übergestülpt, aufgedrängt, aufgezwungen habe. Weil ich sie nicht tragen konnte. Und er musste sie für mich tragen, wurde immer schwerer und unbeweglicher. Die Schichten haben sich über all die Jahre aufgestaut und ihm ein starres kaltes Leben aufgezwungen. Jetzt fliessen sie ab, wie flüssige Farbe die in den Gully fliesst. Der Damm ist gebrochen. Und unter all den Schichten schimmert ein helles zartes Licht hervor, weich und warm und strahlend. Und plötzlich sehe ich wie unter all diesen Hüllen ein kleines zartes Wesen, fast wie ein Baby, unglaublich jung und doch unglaublich stark, auftaucht. Jahrelang war es unter all diesen Schichten verschüttet. Immer mehr überklebt und zugeklebt von unschönem und  schmerzhaftem. Wie Schichten die mit Leim übereinander geklebt wurden und sich erst jetzt durch die Vorstellung meiner Wärme und Liebe langsam Schicht für Schicht ablösen und abfliessen. 

 

Ich bin gerührt und nehme das kleine strahlende Wesen in meine Arme und halte es liebend und schützend. Ich bin unendlich dankbar, dieses Wesen hat mir mein Leid abgenommen und wurde für mich zum Schmerzkörper. Dank ihm habe ich überlebt, Leid und Schmerz überstanden und konnte wachsen. Ich will das kleine zarte Wesen nie mehr als Statthalter für mein Leid missbrauchen - heute kann ich mein Leid selber tragen.

 

geschrieben 2020